Wenn man die Gelegenheit hat, ein fremdes Land nicht nur zu bereisen, sondern mit Familienanschluss zu entdecken, sagt man nicht nein. Kolumbien bietet nahezu alle Temperaturzonen – von kalten Gipfeln bis zum tropischen Regenwald. Viele Pflanzen, die wir als Zimmerpflanzen kennen, haben hier ihre Heimat und können hier ihre Stärken ausspielen. Pereira ist eine Mittelstadt auf 1500 Metern Höhe zwischen den beiden Andenrücken, hat knapp eine halbe Million Einwohner und eine Technische Universität, die ein sehr spannendes botanisches Experiment pflegt.
Die Lage macht den Wald
Pereira liegt am Fuß der Kordillieren, der Botanische Garten am Rand der Stadt in einem langgestreckten kleinen Tal. Carlos, ein Student der TU, nimmt uns vom Eingangsbereich mit und zeigt uns den Anfang des Gartens. Schaubeete mit sehr kontrastreichen Marantha, Calathea und vielen Bromelien sind eine tolle Begrüßung. Etwas am Rand steht das Haus für die Orchideen. Haus ist nicht ganz korrekt, es ist eigentlich ein Kulturgestell. Die Orchideen hängen hier unter einer leichten Verschattung aber im vollen Regen. Der Regen kommt zuverlässig einmal am Tag und die Orchideen wachsen auf ihren Substrathölzern so freudig wie Kinder bei Pommes zulangen. Im Kulturgestell vor uns sind mehrere hundert Orchideen aus unübersichtlich vielen Arten gesammelt. Alles ist grün, wächst, schiebt Blüten und dicke Wurzeln. So ist Orchidee gemeint, nicht die sterilen Supermarkt-Phalaenopsis, die von Plastikpflanzen nicht mehr zu unterscheiden sind. Hier sind Orchideen nicht die Primadonnen, die regelmäßige Luftbefeuchtung brauchen. Hier sind Orchideen die Partisanen, die mit allen möglichen Tricks hoch oben auf den Schultern mächtiger Bäume ihre Samen platzieren und sich amüsieren, dass man auch oben sein kann, ohne einen Stamm aus Holz zu produzieren. An Universitäten werden selten belegte und exotische Fächer mit fragwürdigen Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Orchideenfächer bezeichnet. Hier würde der Begriff nicht funktionieren. Hier sind Orchideen stark und durchsetzungsfähig.
Rein ins Dickicht
Weiter gehts zum sehr unscheinbaren Eingang in den eigentlichen botanischen Garten. Ein Maschendrahtzaun mit einem Metalltor, halb von der Vegetation verschluckt steht vor uns. Carlos öffnet uns das Tor, sagt, ab hier machen wir alleine weiter und ein schmaler Weg führt uns weg vom Zaun ins grüne Dickicht.
Aus Gewohnheit blicken wir nach unten, kleine gelbe Schilder verraten, welche Philodendron-Art es ist. Der Sammelschwerpunkt des Gartens ist auf den Aronstabgewächsen, einer riesigen und botanisch alten Familie, deren kapriziösen und eleganten Vertreter jeder kennt. Die Blätter sind tropisch groß, kräftig grün und im Austrieb oft leuchtend rot. Erst nach einer Weile nehme ich den Blick nach oben und nehme wahr, dass der Wald nicht von Laubbäumen gebildet wird, sondern tatsächlich von Bambus. Ich wusste nicht, dass es einen heimischen Bambus in Kolumbien gibt, aber er kann sich sehen lassen. Jeder kennt chinesischen Riesenbambus, der mit riesigen Knospen aus dem Boden schiebt und dann mit wahnsinnigen 30 cm pro Tag wächst. Ausgewachsen ist ein Halm über 15 Meter hoch und biegt sich leicht über. Der Bambus macht ein Dickicht mit lichtem Schatten, die Rhizome sichern den Hang. Jetzt erschließt sich auch das übergeordnete Konzept, das Carlos uns erklärt hat. Der Botanische Garten bildet einen Sukzessionswald nach, also die Art Wald, die entsteht, wenn man Urwald gerodet hat und ein neuer Urwald nachwächst.
Eine feine Choreographie
Der Primärwald, also Urwald, den noch keiner angefasst hat, ist ein fein austariertes Gleichgewicht vieler Lebewesen. Wir haben heute immer noch erst einen winzigen Bruchteil dieses Gleichgewichts verstanden oder noch nicht mal entdeckt. Rodet man den Urwald, ist dieses feine Gleichgewicht natürlich zerstört. In einer einigermaßen vorhersehbaren Reihenfolge erscheinen nach diesem Eingriff verschiedene Pflanzen, um die gerodete Fläche zu besiedeln. Manche wachsen sehr schnell, werden aber nicht alt, so wie bei uns die Birken. Andere brauchen den Schatten dieser Pioniere, um zu Urwaldriesen heranzuwachsen, die Jahrhunderte alt werden können, wie bei uns etwa die Buchen. Der Bambus übernimmt hier die Rolle der Birken. Er schließt wahnsinnig schnell Flächen, schafft einen halbschattigen Bereich und produziert viel Humus. Es gibt keine Sekunde, wo nicht gerade etwas zu Boden rieselt. Im Bambuswald dieses Gartens stehen schon einige kleinere Bäume, die irgendwann übernehmen und eine große Krone aufspannen werden. Im Schatten dieser Bäume wächst dann irgendwann der eigentliche neue Primärwald heran, in dem sich ein neues, hochkomplexes Gleichgewicht finden kann. Wir stehen mitten drin und können uns eine Momentaufnahme dieses Vorgangs anschauen.
Jede dieser Formen kommt vom Wasser
Der tägliche Regen sorgt für ein feuchtes, sehr pflanzenfreundliches Klima. Es gibt keinen Frost und keine extreme Hitze, also ganzjährig hervorragende Bedingungen. Aronstabgewächse sind perfekt für dieses Klima angepasst. Jedes Blatt hat eine hübsche Spitze, an der Wasser gut abtropfen kann. Dann kann sich kein Schimmel bilden, der die Pflanze schwächen würde. Viele Aronstabgewächse können klettern und bilden Haft- oder Luftwurzeln aus. Sie sparen sich damit, in einen eigenen Stamm zu investieren und können sehr schnell hochwachsen ins Licht. Einige Baumstämme sind bereits gut eingewachsen und verschwinden hinter einer Blättersäule. In dieser Säule entsteht ein eigener Lebensraum mit vielen Verstecken und kleinen, oft winzigen Wasserspeichern, etwa in Blattachseln. Viele Insekten und Amphibien lieben diese Lebensräume, die Vertikale ist voll bespielt.
Um in diesem grünen Haufen Bestäuber anzulocken, muss man sich schon was einfallen lassen. Einige Bäume produzieren sehr viele sehr große Blüten. Der bunte Klecks ist von weitem sichtbar. Die Krebsschere entwickelt einen Blütenstand mit knallbunten Hochblättern, die sehr langlebig sind. Die eigentlichen Blüten sind unscheinbar und liegen in jeweils einem Hochblatt. Mit relativ wenig Aufwand kann die Krebsschere für viele Wochen Aufmerksamkeit erzeugen, ohne sich mit einer Massenblüte verausgaben zu müssen. Ein cleverer Trick den einige andere Pflanzen ebenfalls drauf haben. Ein großer Haufen knallbunter Hochblätter, die lange halten, von denen aber nur jeweils eine oder zwei tatsächlich eine offene Blüte enthalten.
Überlebenstricks hat man nie zu viele
Der Rundweg führt uns einmal um das Tal herum. Unten fließt Wasser und bildet einen kleinen Teich, der natürlich eingerahmt ist von üppig wucherndem Grün. Das Wasser ist hier so reichlich verfügbar, dass sich die Pflanzen sogar dagegen schützen müssen. Manche Blätter sind mit so winzigen Haaren besetzt, dass Wassertropfen einfach abgleiten wie an einer Ente. Kein Wasser auf dem Blatt, kein Schimmel im Stängel, so einfach ist das. Eine Ausnahme bilden hier die Becherfarne. Sie entrollen über vier Meter lange Wedel und bilden einen dunklen Stamm, der dicht behaart ist. Hier wird das Wasser nicht abgewiesen, sondern bleibt hängen und wird vom Farn aufgenommen. Die Farne sammeln nicht nur Wasser, sondern auch Biomasse. Im Herz ihrer Krone bleibt Laub liegen und zerfällt langsam. Der Farn versorgt sich so mit ein paar Extra-Nährstoffen.
Apropos Destruenten: Ein täglich mit Regen versorgter Wald mit viel herumliegender Biomasse und Totholz müsste eigentliche vor Pilzen nur so überlaufen. Tatsächlich habe ich sehr wenig Fruchtkörper gesehen. Ich weiß nicht, ob die Fruchtkörper selber nur kurzlebig sind oder ob die Pilze hier keine so große Rolle als Destruenten spielen. Mulm fressende Insekten gibt es dafür in großer Zahl, dazu Blattschneiderameisen, die ihre eigenen Pilzzuchten betreiben.
Wie schließen den Rundweg und kommen am kleinen Metalltor im Zaun wieder an. Der Dschungel entlässt uns in die gemachten Beete des Vorplatzes so wie ein Bus zwei Rucksacktouristen vor dem Museum ausspuckt. In China ist Bambus ein überall verfügbarer Werkstoff, natürlich auch in Kolumbien. Eine Fußgängerbrücke über eine Straße ist aus Bambus gebaut. Viel nachhaltiger gehts nicht. Wir gehen über die Bambusbrücke zum Campus, um den Weg zurück ins Zentrum von Pereira zu nehmen. Dieser botanische Garten ist ein leidenschaftlich betriebenes Beobachtungsobjekt. Man spürt, dass hier jemand will und kann. Die Begeisterung, die in diesen Garten gelegt wurde, sitzt uns im Rucksack und erzählt uns davon, dass es hier Freunde des neuen Dschungels gibt.