Zeit ist relativ

Zeit ist relativ. Einsteins Evergreen gilt natürlich auch für Pflanzen. Während ich also darauf warte, dass ein Steckling endlich endlich Wurzeln bildet, oder darauf, dass die Pastinaken keimen, fühlt sich das Pflanzentempo schrecklich langsam an. Ein Palmfarn (Cycas revoluta) stand für volle zwei Jahre absolut unverändert bei mir auf der Fensterbank. Ich weiß nicht, was die Knolle in dieser Zeit mit sich ausmachen musste, aber es hat eine Weile gebraucht, bis wieder Wachstum erkennbar war. Pflanzen haben ein vollständig anderes Lebenstempo als Menschen. Ich muss mich als Pflanzenmensch an dieses Tempo anpassen, ob ich will oder nicht. Sich dem unter zu orden ist ja auch irgendwie eine Geste der Bescheidenheit.

Als Jugendlicher habe ich versucht, Palmen zum Keimen zu bringen. Ein paar selbst geerntete Samenkörner einer Zwergpalme (Chamerops humilis) von einer Italienreise legte ich in Schalen und die Zeit fing schlagartig an, sich zu dehnen. Die Samen standen in einer Schale mit Erde innerhalb der Abdeckung meines Aquariums. Hohe Temperaturen, Licht, und 100prozentige Luftfeuchte –  alles war perfekt für den schnellen Start. Die Zeit dehnte sich. Eine Wochen, zwei Wochen, sieben Wochen. Zwischendurch untersuchte ich jedes Samenkorn immer wieder genau auf Veränderungen, sei es im Durchmesser, in der Farbe oder ob sich schon ein Riss zeigte. Ich habe sogar mit einer Nagelfeile nachgeholfen, damit die Keimlinge einfacher raus können. Ich wartete über dreieinhalb Monate, bis sich der erste Keim zeigte. Nach weiteren drei Jahren war das erste Mal zu erahnen, dass die schmalen Grashalme in den Töpfen auf meinem Schreibtisch mal eine Palme werden sollen. Mein Zeitgefühl war definitiv nicht deckungsgleich mit dem von Pflanzen.

Muss bei Pflanzen alles langsam gehen?

Mit der Zeit begriff ich, warum sich Pflanzen so viel Zeit lassen müssen. Eine Palme, die sich zum Keimen entschließt, hat nur einen Versuch. Kopf oder Zahl – Leben oder Kompost. Das Samenkorn muss an einer guten Stelle liegen, wenn es keimt. Liegt es an einer falschen Stelle, ist die Pflanze so verloren wie ein Wal an Land und sollte lieber warten, bis es an einer besseren Stelle liegt. Das Samenkorn hat praktischerweise Möglichkeiten, um eine richtige Stelle zu erkennen.

Erst, wenn der Palmensamen mehrere Wochen in warmer, feuchter Umgebung gelegen hat und nicht bewegt wurde, bauen sich keimhemmende Hormone im Samenkorn ab und die Stoffwechselprozesse des Keimlings können beginnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Palmensamen mit dieser Sicherheitsmaßnahme in einer guten Umgebung wachsen wird, sind also ziemlich hoch. Dass das alles etwas länger dauert, ist für die Palme egal. Für den ungeduldigen Gärtner, der immer wieder in die Töpfe schaut, ist die Zeit endlos lang und erfordert Lösungen. Wenn Pflanzen so furchtbar langsam wachsen, dann muss ich einfach ganz viele davon haben, dann gibt es in der Summe immer etwas Veränderung. Vermutlich haben Gärtner deshalb gerne so viele Pflanzen um sich.

Hat eine Pflanze aber eine gute Position zum Starten gefunden, dann kann es sehr schnell gehen. Schlingpflanzen zum Beispiel schicken ihre Triebe zum Licht, so schnell es der Stoffwechsel zulässt. Hopfen (Humulus lupulus) zum Beispiel braucht recht lange, bis die Knospen am Boden sichtbar sind. Dann aber schafft er innerhalb von wenigen Wochen über fünf Meter Längenwachstum. Man kann wortwörtlich dabei zusehen, wie sich die jungen Triebe um eine Schnur oder einen Ast winden und Halt suchen. Wie macht der Hopfen das? Würde der Hopfen im Tempo der Zellteilung wachsen, könnte er längst nicht so schnell schlingen. Es dauert ein bis zwei Tage, bis sich eine Pflanzenzelle sauber geteilt hat.

Der Trick ist: Pflanzen legen alle Zellen der neuen Triebe schon im Vorjahr als kompakt zusammengefaltete Schrumpfversion an. Im Frühjahr pumpen sie dann während des Wachstums einfach nur noch Wasser und Nährsalze in die Zellen. Diese Technik nutzen übrigens auch die Ackerwinde (Convolvulus arvensis), die an jeder erdenklichen Stelle aus dem Boden schießt und alles überwuchert. Immer wenn ich gerade alle Triebe rausgerissen und mit einklemmter Zunge versucht habe, möglichst viel von den Wurzeln aus dem Boden zu ziehen, ohne dass sie brechen, habe ich nur einen sehr kurzen Zeitraum, in dem alles so aussieht. Meist dauert es nur wenige Tage, bis wieder alles genau so überwuchert ist wie vorher. Für die Ackerwinden ist mein Zeitgefühl also eindeutig zu langsam.