Bildersuche: Stichwort Wald. Ich sehe viele Baumstämme im dämmrigen Gegenlicht, Nebel, Moos, Farne, verschlungene Wege, Hirschkäfer und Rehe in allen Variationen. Gezeigt wird ein Ideal von einem Wald, in dem lange nichts passiert ist und alles ungestört wachsen kann, so als ob man einen beeindruckend langen Haarschopf bewundern darf. Ich vermute, dieser statische Zustand ist ein menschlicher Blick. Wir suchen eine Konstante, den ewigen Wald, der über unsere kurze Zeitspanne hinausragt und Bestand hat. Also stellen wir uns den Wald ewig und statisch vor. Da fällt auch mal ein Baum um, aber dann wird schnell die Lücke im Kronendach geschlossen und der Dauerwald wieder hergestellt. Ruhe im Karton.
Ruderalpflanzen nennt der Botaniker alle die Pflanzen, die auf sogenannten gestörten Flächen zuhause sind. Flächen, die aufgebrochen, umgewühlt, oder sonstwie durcheinander sind. Die Karde ist so ein Kandidat. Sie keimt am liebsten auf offenen Flächen mit wenig Konkurrenz. Wie kann die Karde in einem statischen Wald überleben? Wie kann es so viele Ruderalpflanzen geben, wenn der Wald statisch und dauerhaft geschlossen ist? Oder ist der Wald vielleicht gar nicht statisch, sondern immer im Umbruch?
Die allermeisten Pflanzen sind Spezialisten für Umbrüche. Tiere, die den Boden durchwühlen, Stürme, die Bäume umlegen oder Hangkanten freilegen, Hochwasser, die die Flussufer vom Bewuchs befreien – da lacht die Ruderalpflanze und treibt fröhlich eine Wurzel in die aufgebrachte Erde. Vielleicht gibt keine statischen Zustände, sondern nur verschiedene Stadien des Umbruchs. Direkt nach einem Umbruch, wenn zum Beispiel Wildschweine den Boden nach Wurzeln durchwühlt haben, also in den wenigen Wochen, wo offener Boden sichtbar ist, passiert am meisten. Tausende von schlafenden Samen werden wach und versuchen ihr Glück. Der Boden ist bald nicht mehr frei, sondern von knallgrünen Keimlingen bedeckt. Nach ein paar Monaten haben sich ein paar davon durchgesetzt und schließen den Boden und ihren Lebenszyklus mit einer Blüte und neuen Samen ab. Jetzt kommt die zweite Welle der Ruderalpflanzen, die schon deutlich länger durchhalten. In größeren Umbruchflächen mit viel Licht schießen jetzt Junge Birken ins Kraut, Eschen und Brombeeren trudeln ein wie Waldarbeiter in der Kneipe. Sie halten viele Jahre durch und erinnern lange Zeit daran, dass dieser Standort umgebrochen wurde. In ihrem Schutz wachsen dann Ahorne, Eichen und vor allem Buchen heran, je nach Gegend. Die übernehmen nach ein paar Jahrzehnten das Ruder und stellen einen vorläufigen Wald dar. Der Boden ist jetzt voll bedeckt mit Kraut und Laub. Jetzt ist schon weniger Dynamik aber immer noch Bewegung. Bleibt diese Fläche weiter ungestört, sagen wir ein paar Jahrhunderte, können sich die Kinder dieser Eichen und Buchen breit machen und einen Primärwald stellen. Die Dynamik ist immer noch da. Und der nächste Umbruch nicht weit entfernt.
Das, was wir uns als statischen Wald vorstellen, ist also in Wirklichkeit das langsame Auslaufen einer Umbruchdynamik. Ewig ist also nicht der Wald, sondern der Umbruch. Was für ein schöner Gedanke.