Die Welt ist in den Händen des Corona-Virus. Viele Medien versuchen, exponentielles Wachstum zu erklären und warum eine möglichst frühzeitige Eindämmung die größtmögliche Wirkung hat. Wenn es jemanden gibt, der sich exponentielles Wachstum gut vorstellen kann, dann sind es vielleicht Gärtner. Ein frisch angelegter Garten sieht traurig und leer aus. Ein paar dürre Zweige wackeln mit ihren Etiketten, ein paar einsame kleine Blattrosetten verlieren sich im offenen Boden und die ersten Besucher, die stolz durch den Garten geführt werden, schauen höflich lächelnd auf die Beete und sehen – einen leeren Garten.
Der Gärtner sieht jedoch, was sein wird und dass die kleine zarte Pflanze, die gerade ihr zweites Blatt aus dem Boden schiebt, bald mächtig um sich greifen wird. Sie braucht das erste Blatt, um die Wurzeln mit frischem Zucker zu versorgen und ein zweites, jetzt schon etwas größeres Blatt zu bilden. Und dann hat sie schon zwei Blätter, um neue Wurzeln zu versorgen und jetzt zwei neue Blätter zu bilden. Sie hat dann vier Blätter und bald acht, dann sechszehn und so weiter.
Wer nur die ersten paar Blätter sieht und sich exponentielles Wachstum nicht vorstellen kann, wird nicht glauben, dass dort bald eine üppige Staude stehen wird. Der Gärtner hingegen sieht schon beim zweiten Blatt die ganze Staude und dass schon fast die Hälfte des Wegs gegangen ist. Allerdings wachsen nicht alle Pflanzen exponentiell, manche auch eher linear, einige in der Jugend exponentiell, dann später eher linear.
In einem Garten besteht die Kunst darin, möglichst gleichwertig wuchsstarke Pflanzen zu kombinieren, sonst übernimmt irgendwann eine das Beet so wie die lauteste Gruppe von Jugendlichen irgendwann den Spielplatz für sich beansprucht. Ich teste gerade zwei sehr wuchsstarke Stauden direkt nebeneinander: Eine Akelei tritt gegen eine Japansegge an. Die Akelei versamt sich stark, sie erobert also von oben. Die Segge treibt lange Ausläufer und erobert so die Fläche von unten. Die beiden sitzen direkt nebeneinander, ich beobachte, wie sich verhalten und ob sie gleichstark im Wuchs sind. Eine kleine Schlacht am Buffet in Zeitlupe.
Landschaftsgärtner fassen Pflanzen nach Ausbreitungsstrategien zusammen und konzipieren damit eine Matrix für einen Garten. Es gibt keinen definierten Standort für eine Pflanze, sondern einen definierten Bereich, in dem die Pflanzen selber ihren Standort finden und auch wandern können. Mittlerweile gibt es erprobte Mischungen von Pflanzen, die sich viele Jahre in einem Gleichgewicht halten können. Das ist sehr wertvoll nicht nur für öffentliche Grünanlagen.
Würde man einen Virus einem Ausbreitungstypen zuordnen, dann wäre er maximal invasiv. Der einzige begrenzende Faktor für seine Ausbreitung ist nur das Ende der Ressourcen (ja, der Vergleich, dass der Mensch für die Erde eine Art Virus ist, liegt auf der Hand, aber darum geht es jetzt nicht). Die Maßnahmen, die jetzt weltweit zur Eindämmung getroffen werden, erscheinen vielleicht hysterisch und übertrieben. Allerdings können Virologen exponentiell denken und wissen, warum sie bestimmte Maßnahmen empfehlen. Sie wissen, dass eine handvoll Infizierter schnell zu ein paar tausend Infizierten werden kann und dass Krankenhäuser nicht beliebig viele Menschen versorgen können.
Wenn im Garten eine Pflanze nicht zu bändigen ist und alles zu überwuchern droht, wie etwa der Japanische Knöterich, dann bleibt am Ende nur die Entscheidung, den Garten dieser Pflanze zu überlassen oder sie komplett rauszureißen. Dass wir einfach alles dem Virus überlassen, ist keine Option, also versuchen wir, ihn rauszuschmeißen, indem wir ihm die Übertragungswege abschneiden. Die Viren springen dann ins Leere. Eigentlich sehr clever.